Donnerstag, 7. Juni 2012

Rebellin

Es heißt, wenn man stirbt oder kurz vor der Bewusstlosigkeit steht, würde man sein eigenes Leben Revue passieren lassen und einschneidende Erlebnisse würden in Bildern vor dem inneren Auge ablaufen.

So erging es mir letzte Nacht. Ich bin nicht gestorben. Im Gegenteil: Ich war noch einmal 16.
Ich war auf dem Ärzte-Konzert.
Bei Bands, die ich schon lange verfolge, will ich die alten Titel hören. Natürlich, weil ich die mitsingen kann. Textsicher bin. Aber vor allem deshalb, weil sich mit den Liedanfängen die ersten Erinnerungen einstellen, ich mich völlig fallen lassen und diesen Bildern, diesem früheren Leben hingeben und es auf einmal mit Händen und jeder einzelnen Schweißperle greifen kann.
Heute Nacht war ich mit meinem ersten Freund auf diesem Konzert, stand mit ihm in seiner Wohnung, in meinem Zimmer zuhause. Die Erinnerung an die Ärzte und an deren Liedtexte warfen mich zurück (anfangs unfreiwillig) in die Zeit meiner Pubertät, dieser Sturm- und Drangphase, in der ich nicht wusste, wer ich war, wer ich werden wollte und mich doch, vor allem gegen meine Eltern, behaupten wollte.
Ich durchlebte diese intensive Zeit des Hasses, der Wut, der neuen Erfahrung von so anderer Art Liebe.

In der Anfangszeit meiner allerersten Beziehung und dieser großen, großen Liebe zu R. wollte ich jede Minute mit ihm nutzen und vor allem mein Vater sah hierin die letzte Möglichkeit, Macht auf mich auszuüben. Während die Ärzte gestern Abend mit Licht, Gitarre, Schlagzeug, Stimme und Text, den Leuten um mich herum diese Atmosphäre erzeugten und die erste Zeile "Ich bin dagegen" begannen, war ich die 16jährige, der ihr Vater befahl, 20 Uhr wieder daheim zu sein. Ich war es nicht. Natürlich nicht. Die Nächte in dieser frischen Liebe sind die schönsten. Ich sah vor mir, während ich zu "denn Ihr seid dafür" die Augen schloss, wie ich erst am nächsten Morgen heimgekommen war, um dann von meinen Eltern rausgeschmissen zu werden.
Ich irrte durch die Landschaft, erklomm meinen Lieblingsberg, der ab diesem Moment meine Zuflucht wurde. Ich saß dort, mit diesem Lied im Ohr.

Dieses Lied wurde meine Zuflucht. Die Ärzte (so dramatisch das klingt, so pubertierend, vielleicht übertrieben) verliehen mit dem Lied meiner Wut und meiner Ausweglosigkeit eine Stimme, mir ein Ventil.
Die wichtigste Textstelle hatte ich mir groß über mein heimisches Bett gehangen.
Ich weiß es nicht, vielleicht haben meine Eltern diese Zeilen nie gelesen.

Gestern Abend wogte ich in der Menge, grölte mit und all die Erinnerungen heraus. Und als dann die für mich wichtigsten Zeilen kamen, liefen die Tränen, und auf der Bühne standen nicht die Band, sondern meine Eltern.

Hier war ich also 16, ich habe geheult und heute Nacht wahrscheinlich mehr erreicht als in irgendwelchen vorangegangenen Reflexionen. Hinter mir wusste ich T. Und nach diesen 4 Minuten Revue passieren lassen ließ ich mich in seine Arme fallen, lächelte ihn an, ohne dass er auch nur eine geringste Ahnung davon hatte, was eben passiert war, und war wieder im Hier und Jetzt.

Befreiend, wenn man irgendwann einfach sagen kann, dass es jetzt ok ist.


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