"Ich glaube, dass wir genau deswegen hier sind, [...] damit es zu Ende gehen kann. Alles geht zu Ende, unsere Ehe, wir selbst. Es ist das Ende, verstehst du? Das Ende von allem."
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Als ich erkannte, dass "Ende" nun wirklich beendet war, wurde ich wütend. Ich dachte, wie dreist es doch von diesem spanischen Autoren sei, eine derart geniale Story zu schreiben, und mich so ahnungslos zurück zu lassen. (Es fällt mir schwer, diese Leere danach zuzulassen und zu akzeptieren, dass es hier keine weiteren Antworten gibt und dass es die Geschichte wahrscheinlich ausmacht, dass ich die Antworten in mir suchen muss, David Monteagudo aber auf keinen Fall diese mir liefern wird.)
"[...] Als wir zarte zwanzig waren, haben wir einen Ausflug zur Burg Penahonda gemacht. - Wir sind nachmittags angekommen, haben in der Herberge übernachtet und sind am nächsten Tag durch die Schlucht gewandert. - In jener Nacht hatten wir die Schlafsäcke rausgelegt und im Freien geschlafen, auf einem gepflasterten Platz vor der Herberge. - Der Ort liegt weit ab vom Schuss, in der Nähe ist nur eine halb illegale Siedlung, und heute vielleicht nicht mal mehr das. Ringsum war nirgendwo Kunstlicht, also konnte man die Sterne gut sehen, sehr gut sogar. - Jedenfalls romantisch genug, dass jemand auf die Idee kam, fünfundzwanzig Jahre später nochmals hinzufahren, am gleichen Tag und um die gleiche Uhrzeit, unabhängig davon, ob wir dann noch Freunde sind oder nicht. - Damals haben wir alle feierlich geschworen, an diesem Jahrestag nicht zu kneifen. Und wir waren überzeugt davon, dass niemand diesen Schwur brechen würde. [...]"
Hugo, Ginés, Maribel, Rafa, Nieves, Amparo, Ibánez und "der Prophet" waren vor 25 Jahren sowas wie Freunde, eine Clique und irgendwann nach 25 Jahren beschließen sie, sich genau dort wieder zu treffen, wo sie als Clique ihre Nächte miteinander verbrachten. Irgendwo in einer Herberge auf einem Berg nahe der spanischen Wüste. Karg.
Irgendein Ereignis, ein diffuses, das bis zum Schluss nicht klar umrissen wird und doch ausschlaggebend zu sein scheint für das, was folgt, führte dazu, dass alle sich aus den Augen verloren. Sie heirateten, bekamen Kinder, suchten sich, ihre (sexuelle) Identität, ließen sich scheiden, verließen ihre Heimat, scheiterten und trafen sich, und das Gefühl drängelt sich dem Leser auf, aufgrund einer Mischung aus Nostalgie, morbider Neugierde und einer Art Wiedergutmachungsreflex.
Ginés reist an mit Maria, einer Frau, die er beim Escortservice gebucht hat, aus Angst, der einzige beim Treffen zu sein ohne Partnerin. Maribel und Rafa sind das einzige Paar, das sich innerhalb der Clique gefunden hat, Hugo kommt mit Ehefrau Cova, Amparo scheint eine Lesbe zu sein und bestreitet dies doch immer wieder vehement, Nieves ist geschieden und bei Ibánez ist alles ziemlich diffus. Er ist der Klugscheißer unter den Leuten, der mit vermeintlichem Wissen versucht, sich seine Empfindungen vom Leib zu halten. Und "der Prophet" ist der, um den es sich scheinbar dreht. Zumindest will Monteagudo das glauben machen. "Der Prophet" wird nur genannt, er erreicht die Herberge nie, und scheint der Schuldige zu sein, dafür, dass die Clique auseinander brach und für das, was kommt, was Monteagudo so eindrucksvoll schildert.
Alle treffen mit ziemlichem Widerwillen an der Herberge ein, es fehlt an Herzlichkeit und der Umgang miteinander erscheint mir so trostlos wie die spanische Natur, in der Monteagudo seine Protagonisten dem Ende entgegen gehen lässt. Niemand freut sich auf den anderen, teilweise ist der Umgang miteinander geprägt von diesem typischen "Mein Haus, mein Auto, meine Yacht"-Gehabe (dass man sich nur trifft, um sich mal wieder bestätigt zu fühlen), teilweise auch von einer spürbaren Angst davor, dass das jetzige Treffen die Wahrheit über dieses diffuse Ereignis ans Tageslicht rücken und damit die Illusion von Freundschaft, Zusammenleben und Liebe zerstören könnte.
"[...] Dabei wäre es ein Akt der Liebe gewesen! Endlich ein Akt der Liebe! Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt bist auch du dran."
Alles an der Verabredung der Freunde funktioniert von Anfang an nicht. Auch die äußeren Umstände nicht. Obwohl gerade die einwandfrei ihren Weg nehmen ... Sie verhelfen den Protagonisten offenbar zu der einzigen Lösung, die für sie nur noch zu existieren scheint. Einer nach dem anderen verschwindet.
"Unerbittlich verschwindet einer nach dem anderen. Sie lösen sich lautlos in der Landschaft auf, sie verlieren sich im Nichts."
Es hat etwas von Blair Witch Project, das war mein erster Eindruck.
Monteagudo erzeugt eine Spannung, fesselt seinen Leser, und dabei passiert nichts, was den action- und dramaerprobten Leser sonst noch gruseln könnte - Keiner rennt mit entsicherter Knarre durch die spanische Sierra, nirgendwo gibt es ein Blutbad und Gemetzel. Das ist es, was fesselt: Dieses Nichts, diese Lautlosigkeit, die Hilflosigkeit. Die Übrigbleibenden, die sich dezimierenden, stellen die abstrusesten Theorien auf, und die, die sich am hartnäckigsten hält, heißt "der Prophet". Der, mit dem die Clique vor 25 Jahren irgendetwas angestellt haben muss, verfolgt die Beteiligten bis heute, er löst Angst aus und beschwert das schlechte Gewissen eines jeden Einzelnen. Er nun hat alle Fäden in der Hand und scheint aus Rache seinen vermeintlichen Freunden Böses zu wollen.
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Selten habe ich ein Buch gelesen, das mich derart fesselt. Monteagudo schreibt in der Gegenwart und minimalistisch, ohne sich in Belanglosem zu verlieren. Was er beschreibt, scheint das zu sein, was wichtig ist, und doch gibt er dem Leser keine Handreichung, keine Hilfestellung. Die einzige, unmittelbare Wirkung ist eine Art Schockstarre, aus der heraus man nur noch lesen kann, nichts anderes, der Leser verschlingt die Worte, mit der einen Hirnhälfte versucht er selbst, diesem Absurdum, diesem Mysterium auf die Spur zu kommen, mit der anderen Hirnhälfte weigert er sich, Übernatürliches als Erklärungsansatz zuzulassen. Am Ende des Lesens war ich wütend - mittendrin auch. Ich dachte mir "Ach, David, weißte was, lies Deinen Scheiß doch alleine. Das wird alles immer gruseliger, immer un-fass-barer, und Du scheinst mir keinerlei Anstrengungen zu machen, mir das alles zu erklären". Stattdessen schildert er - hinterfotzig - in welcher Reihenfolge die Freunde liegen, sitzen oder stehen, wann welche Fabrik geschlossen hat oder verwendet Fachausdrücke, die in meinen Augen völlig deplatziert sind und mich nur noch unruhiger machen. Mit diesen Aufzählungen und genauen Beschreibungen erzeugt er eine Wahnsinnsspannung, und irgendein Rest aufmerksamer Hirnmasse denkt sich, dass es doch jetzt gleich, gleich (!), kommen müsse, die Lösung; man hält die Luft an, liest schneller. ---- Dann ist das Kapitel zu Ende. Offenbar war auch das unwesentlich. Offenbar war auch das etwas, dass weder Protagonisten noch Leser zu irgendeiner (befriedigenden) Antwort geführt hätte. Desillusioniert. An Monteagudos Hand verhungert der Leser am ausgestreckten Arm.
"Ende" wird als Roman beworben; wenn man von dem Verschwinden der Leute hört, denkt man, es handele sich um einen Krimi, wenn man so mittendrin in der Ahnungslosigkeit steckt und sich ausgeliefert fühlt, könnte es genauso gut Science Fiction sein ...
Und dann sind auf einmal alle verschwunden bis auf einen Protagonisten. Und plötzlich vertauscht Monteagudo die Ebenen. Während er bis eben noch den allwissenden Erzähler vorgab, der das Geschehene aus seiner Von-oben-Perspektive schildert, nur das Beobachtete wiedergibt, schreibt er nun im "Wir". Und ich bin mir nicht sicher, ob er damit mich als Leser meint, oder "Wir" auf einmal all die verschwundenen Seelen sind, die hinter dem Protagonisten wieder auftauchen, beobachten und, aller Theorien zum Trotz, zu dem einen Ergebnis kommen: "Wenn es keine Erklärung mehr gibt, dann ist das das Ende."
"Er geht bis ans Ende und lässt uns atemlos zurück."
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*** Anm.: Alle Zitate, also entweder mit * oder "-" gekennzeichnet, entstammen der Rowohlt-Ausgabe vom Januar 2012