Samstag, 5. Mai 2012

Nachrufen.

Das erste Mal gesehen habe ich ihn am 18. März 2011, morgens. Und als ich ihm da so gegenüberstand, er mir mit der später immer wiederkehrenden undurchdringlichen Mimik die Hand gab und "Guten Tag" sagte, von der Tageszeit unabhängig, bekam ich Angst vor ihm und wollte den Rückzug antreten.

Und ich kam dann doch immer wieder.

Unsere Beziehung währte nicht lange; sie endete am 27. April 2012. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er vom Urlaub ganz braun gebrannt, das Gesicht wirkte etwas eingefallen, zumindest gaukelt mir meine Erinnerung das vor. Ich weiß nicht, welche Funktion das hat - Vielleicht, dass ich mir hinterher sagen kann, ich hätte es ja gesehen, ich hätte es ja ahnen können. Aber es kommt unerwartet und man kann sich davor nicht schützen ...

Seine grauen Haare umrahmten sein Gesicht mit dem charakteristisch kecken Ausdruck; es verging keine Stunde, in der er mich nicht doch zum Lachen brachte. Er ließ mich ganz oft in meine ganz eigenen, einzigartigen Abgründe schauen, um mir dann mit einem Lachen, manchmal war es auch nur ein Lächeln, mal eine Wahnsinnsmetapher, mal eine mich überraschende Empathie, den Weg heraus zu zeigen und alles irgendwie so ein wenig zu relativieren.

Seine Ringelsocken hab ich geliebt und irgendwie suchten meine Augen, egal wie intensiv unsere Zusammenarbeit war, immer währenddessen seine Fußbekleidung ab und waren irritiert, wenn dort keine, vornehmlich grüngestreiften Socken zum Vorschein kamen.

Er saß mir stets seitlich gegenüber, in unregelmäßigen Abständen zog er sein Jackett zurecht und positionierte sich anders in seinem Sessel; für mich immer das Zeichen, dass gleich entweder eine markante Äußerung, eine Zusammenfassung, ein Deutungsansatz von ihm folgen würde, oder eine Frage, in jedem Fall etwas, das den Finger in meine Wunden bohrte.

Vor allem die letzten Zusammentreffen habe ich als sehr intensiv in Erinnerung, sehr arbeitsam, sehr effektiv, voll von Erkenntnissen. Der Vorraum, ausgekleidet mit einem dicken Teppich, bis an die Decke reichende Bücherregale (dass Sie Gernhardt lesen, hat Sie mich noch viel mehr lieben lassen), das durchgesessene helle Ledersofa mit "DIE ZEIT" auf dem Tischchen und hinten in der Ecke ein großer, flauschiger Plüschteddy, waren für mich der erste Schritt aus meinem Alltag heraus, läuteten für mich 50 Minuten harte Arbeit, Tränen, Wut, Intimität, Verständnis, Verstehen, Vertrauen, Ruhe, Akzeptanz, Lachen, Irritation, Verzweiflung ein.

Er nahm die Rolle meines Vaters ein, meines Lehrers, meines Lehrmeisters, meines Philosophen, meines Freundes; mit ihm konnte ich schweigen. Er war ein unheimlich wichtiger Mensch für mich, und dabei habe ich völlig vergessen, dass auch er eine menschliche Eigenschaft besitzt: Sterblichkeit.

Diese Rolle bleibt vorerst unbesetzt.

Ich bin so wütend.

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