Dienstag, 10. April 2012

Biggii? Bist Duuuu's? Üsch denke, Du bist im Uuuurlaup? * / **

I. Kein Ort.

Es gibt keinen Ort, an dem ich mich wohler fühle. Kein Land, bei dem ich, kaum dass ich die ersten Straßenschilder lese, die ersten Bahndurchsagen höre, mich angekommen fühle. Kein Ort, an dem ich schneller zur Ruhe kommen, besser vergessen kann: Tschechien. Ein Ort, an dem auch ich 5 Stunden am Stück einfach nur rumsitzen kann. Ja, ich gebe zu, in den tschechischen Kneipen werden es in den besagten 5 Stunden dann doch mal 20 Zigaretten, 3 Liter Bier und sich alle 30 Minuten wiederholende Toilettengänge (Die belegte und kratzende, kaum vorhandene Stimme bedankt sich dafür spätestens am nächsten Morgen und dem bekannten Geschmack nach toter Maus im Mund - wie auch immer die schmeckt). Es sind aber eben auch diese stundenlangen Gespräche, die von ernsten Themen wie Grass' Gedicht und der Sinn des Lebens im Allgemeinen..., lustige Suffanekdoten über tschechisch-deutsch-englische Flirts bis hin zu endlosem Gegiggel alles enthalten. Ähnlich fühlte ich mich, als ich 9 Monate in Brünn gelebt habe und zum Geburtstag schenkte ich mir die Wiederholung dieses Gefühls zwischen Menschen, die ich liebe, ohne ihre Sprache genau zu verstehen.

II. Flucht.

Tschechische Botschaft in Berlin.
Hier wurde im Februar der Grundstein gelegt.
Die Entscheidung, mit S. nach Prag zu fahren, trafen wir erst 2 Wochen vorher. Aber ich wusste ganz genau: Hier in L war mir gerade alles einfach nur zu viel. Der Umzug-Einzug-Auszug, eine neue Mitbewohnerin und die damit verbundenen Veränderungen bereiteten mir unendlichen Stress. Nachts wachte ich mehr oder minder schweißgebadet auf, weil wir dringend einen Wasserkocher brauchen und ich den eben nachts kaufen wollte. Neuer Strom-, Internetanbieter ... Ich wünschte mir, über die Dauer dieses organisatorischen Mists einfach die Augen zu schließen und erst wieder aufzuwachen, wenn die Mainzelmännchen oder irgendeine andere, für Wunder zuständige Institution sich darum gekümmert hätte. ... Dann das Theater mit dem Bafögamt, die Männergeschichten (meine neueste Paranoia lautet: beziehungsphobisch ^^), dieses ganze Pärchen- und Familiengedöns, die stetig wiederkehrende Begegnung mit der Vergangenheit, Fragen danach, was eigentlich eine Freundschaft ausmacht, wie weit man gehen darf, was man aushalten muss und wann ich bitte endlich platzen meine Meinung sagen darf. Konstruktiv, versteht sich.

III. [Nemluwihmtschäskih].

Kurzum: Ich wollte raus. Und ich bombardierte S. so lange mit neuen Angeboten, dass wir es irgendwann tatsächlich schafften ... Und so fuhr ich am 6.4. hinaus in die mir vertraute Welt: Die vertraute Sprache (deren Erfinder ein ziemlich garstiger Mensch gewesen sein muss), das vertraute Geräusch, wenn sich die Schaffner mit ihren richtigen Stempeln durch die Zugabteile stempeln und damit die Fahrkarte entwerten, die mir so vertrauten Menschen. Die vertraute Unorganisiertheit. Sogar die polyglotten (aaah, ein Fremdwort!) Penner und Obdachlosen gehören irgendwie dazu ... Kaum auf dem Prager chlawni nadraschi [Hlavní nádraží] (=Hauptbahnhof) angekommen, durchlebte ich die so vertrauten, geliebten Situationen: Ich muss ein Schild auf meiner Stirn tragen. Oder mindestens so polyglott aussehen wie die hiesigen Penner: 4 Leute sprachen mich an (Ich kann nur erraten, was sie von mir wollten) und ich antwortete wortgewandt mein Ne-mluvím-Česky [Nemluwihmtschäskih] - Ich kann kein Tschechisch -, woraufhin eine Frau auf Tschechisch ganz begeistert antwortete: Ach, aber Sie verstehen mich, ja, das ist ja super! Mist! Das ist die Crux an der Sache: In Tschechien weigere ich mich grundsätzlich, deutsch zu reden, aber wenn ich dann, offensichtlich überzeugend, tschechisch radebreche, werden sowohl der Angesprochene als auch der Radebrechende (=ich) übermütig und früher oder später ist der Punkt erreicht, an dem nur noch mein vielzitiertes "Ääääh" und ein Blick aushelfen, der ungefähr so aussieht, als hätte ich mit dem tschechischen Muttersprachler ein 9. Weltwunder vor mir. Ich sagte jedenfalls, bedauernd, dass ich wirklich nur "malý" (wenig) spreche und verdeutlichte das mit der entsprechenden Gest, woraufhin die Frau halb abschätzig, halb amüsiert, abwinkte und geschäftig davon lief. Von dieser Situation gerade erholt, bauten sich zwei junger Männer vor mir auf mit jeweils einem Bauchladen vor dem Bauch meinem Gesicht, brabbelten unverständliches Zeug auf Tschechisch, ich setze sofort meinen Weltwunderblick auf und ließ meinen üblichen Spruch (s.o.) los und dachte, die zwei mit den Plüschtieren im Bauchladen damit los zu sein - aber die Herren packten ihr "Anglicky" aus, unterbreiteten mir erneut ihr Reduzieren-Sie-Ihr-gesellschaftsbezogenes-schlechtes-Gewissen-und-unterstützen-Sie-kleine-Kinder-indem-Sie-ihnen-die-Plüschtiere-wegkaufen-Angebot, ich schüttelte entnervt den Kopf und hatte von da an Ruhe (Es macht für mich eh keinen Sinn, Plüschtiere zu verkaufen, um den Erlös den kleinen Kindern zukommen zu lassen; soll man den Kindern doch gleich die Tiere geben .... ).

IV. Zimmer 610.

Unser Hotel hieß Hotel Grand. Dass das mit dem Ding komisch werden würde, hätte mir klar sein müssen, als ich die Klingel übersah und gegen die verschlossene Tür gerannt bin. Die an der Rezeption wussten erst nichts mit uns anzufangen, telefonierten dann ganz hektisch, frühstückten uns dann mit einer Flasche Wein, Bonbons und anderen Höflichkeiten ab (der Wein war eklig, aber einem geschenkten Gaul undsoweiter, und die Bonbons waren Salbeibonbons...), erklärten uns dann, sie hätten ein Problem mit unserem Zimmer (Wir auch...), hätten uns im Hotel Taurus einquartiert, das Taxi würde kommen, wir müssten uns noch 5 Minuten gedulden ... Dann sollten wir uns weitere 5 Minuten gedulden, der Taxifahrer, der sich als Hotelinterieur o.ä. entpuppte, müsse sein Auto ... zusammenbauen säubern, S. und ich standen dümmlich grinsend wie beim Schulausflug abhanden gekommene Schulkinder vor dem Hotel, der Mann kam mit seinem Auto und fuhr uns zum Taurus. Zimmer 610. Der ellenlangen Erklärung des (zugegebenermaßen sehr hübschen) Rezeptionisten zufolge hätte unser Zimmer neben vielen anderen im 6. Stock sein müssen ... Na ja, unser Zimmer war ... ganz oben, unterm Dach, es war das einzige dort, vor lauter Dachschrägen konnte man vom Zimmer 70 Prozent nicht nutzen, außer, um sich den Kopf zu stoßen, die letzten Stufen wurden eine Herausforderung für jeden schwer Bepackten bzw. Betrunkenen ... Und unser Fernseher hatte 4 deutsche Programme, u.a. RTL, sodass ich meinen Geburtstag mit einer Premiere beging: RTL-Hartz-4-TV mit dicken Frauen, kriminellen Männern, allerhand Sex, Betrug und Menschenhandel. Und das alles passiert genau in unserer Nachbarschaft! Die dümmsten Menschen, die authentischsten Fälle, natürlich auf wahren Begebenheiten beruhend, stammen aus Sachsen! Ich hab's ja immer gewusst!

V. Der Leopard.

Ich feierte in meinen Geburtstag hinein, was bedeutete, dass wir von 19 Uhr an in einer, wir würden es in Deutschland liebevoll Spelunke nennen, zubrachten, original czech cuisine zu uns nahmen, vor allem die flüssige, nebenbei auf den 3 Fernsehbildschirmen Tennis, Golf und nochirgendwas verfolgten (So richtig heimelich wurde es, als das hier lief), und auf Deutsch jeden noch so erdenklichen Witz machen konnten - Es verstand uns einfach niemand, umso unterhaltsamer fanden uns aber alle. Wie Tiere im Zoo. S. meinte, ich hätte so viel Scham Charme, würde so sehr strahlen, ich könnte auch mit einem Leopard in die Kneipe fahren, ich bräuchte nur lächeln, bissl dümmlich grinsen und "Ich hab da aus Versehen den falschen Knopf erwischt" hinzufügen und keiner würde mir das Chaos übel nehmen. S. war es auch, der die nächste Showeinlage lieferte: Punkt 00:irgendwas, als der 7.4. gerade ein paar Momente alt war, überreichte er mir ein silbernes, eingewickeltes Ding, was einem Vibrator sehr ähnlich war und welches ich mir von nun an stolz in alle vorhandenen, sichtbaren (!!!) Körperöffnungen hielt. Der Nasenschneider und ich sorgten von nun an für den Rest unseres Kneipenaufenthaltes für irritierte Blicke.

VI. Hany Bany.

Was ich an Tschechien und vor allem meinem Brünn-Aufenthalt so liebte, waren die verschiedenen Begegnungen mit Menschen. Spannende, kommunikative, offene und sehr humorvolle Menschen, die gern und viel lachen und einem sehr schnell das Gefühl vermitteln, man würde sie schon ewig kennen. Da ist die Sprachbarriere sogar der beste Einstieg für eine wundervolle Kneipennacht. Und die können so wunderbar flöööörten! Das reinste Paradies und nicht allein deshalb ein ernst zu nehmender Grund für mich, in dieses Land zurückzukehren / auszuwandern. Ich bin ja eigentlich nicht so die Phrasendrescherin, aber dieses "Ein Lächeln öffnet jede Tür" bewahrheitet sich in Tschechien immer wieder.

VII. Adam.

Ja. Und dann war da noch Adam. Ein Bekannter von S., der sich selbst als Philosoph-Intellektueller-Kommunist ohne nationale Identität bezeichnet und sein Studium wegen der Germanistik kicken will. Adam sieht aus wie ein Philosoph, er hat lange Haare, in denen er entweder rumspielt (um seine Gedanken zu ordnen) oder er sie dynamisch nach hinten wirft. Adam ist ein Stellvertreter der Menschen, die ich bis dato in Brünn & Co kennengelernt hatte: Sie beeindruckten mich aufgrund ihres einwandfreien Deutschs mit charakteristischer Prägung und Verwendung von Worten / Phrasen, die ihr Deutsch so speziell und geradezu episch macht; ihrer Bildung (deutsche Außenpolitik) ... ihre offensichtliche Bodenständigkeit ... und so absurd sie auch zeitweise klingt oder begründet wird: ihre Identität, ihre politisch-gesellschaftliche Einstellung. Zumindest empfand ich das am Anfang so. Adam war da irgendwie anders. In der zweiten Kneipe, die eigentlich 23 Uhr schloss (auch so eine Eigenheit der Tschechen), in der wir aber bis 0 Uhr saßen, kam ich irgendwann auf Tuchfühlung mit Grass' Israel-Gedicht. Ich muss zugeben, ich war zu dem Zeitpunkt schon ziemlich betrunken und verfolgte die Diskussion nur noch durch einen Nebel, war aber nach wie vor begeistert von dieser Mischung aus - Saufen und Philosophieren. Na ja, und ich war doch irgendwie neidisch, dass mir ein Tscheche meinen Horizont über deutsche Happenings erweiterte. Ich empfinde mich zwar als politisch nicht besonders engagiert, aber unter den eben beschriebenen Umständen macht sogar mir das Freude. Bis zu einem gewissen Punkt:

VIII. Am Rand.

In Kneipe Nr. 3 weckten irgendwann 3 junge Tschechen, 2 Frauen, 1 Mann, Adams Interesse. Ich verstand kein Wort, S. saß sukzessive resignierter neben mir und schüttelte innerlich seinen Kopf, aber irgendwann konnte auch ich wahrnehmen, dass die Tonlage der 4 schärfer geworden war. S. und ich zogen uns demonstrativ an, standen neben dem Tisch, hatten aber keine Chance, Adams Aufmerksamkeit auf uns und den Wunsch zu gehen, zu lenken. Offenbar ging es um lebensnotwendige, wichtige Dinge (Plüschtiere für kleine Kinder kaufen oder so...), der Ton wurde schärfer, die Atmung schnappender, die Blicke ... intensiver, und so langsam kam Bewegung in das Ganze. Ich stand vom Tisch entfernt am Klavier, guckte dumm rum und irgendwann erblickte ich in Zeitlupe auf eine der Frauen zufliegende rote Tropfen und einen Adam, der, seinen Rucksack aufgeschnallt, über den Tisch gebeugt sein nunmehr leeres Glas hielt. Ich hatte noch gar nicht richtig geschnaggelt, dass das echt ist, was sich mir da gerade bot, als die getroffene, junge Frau an mir vorbei aufs Klo rannte, sichtbar verschämt und entehrt, die Rotweintropfen auf ihrem Gesicht sahen aus wie Blut, da hatten Adam und der andere Tscheche sich bereits fest ineinander verkeilt, es flogen Worte wie komunist und fašist [Faschist], was in diesem Falle kongruent war und Adam meinte. Danach flogen die Fetzen und die Männer auf ein Sofa, S. dazwischen, ich am Rand, ziemlich regungslos, zerrte dann S. aus der Rangelei und meinte "Das ist nicht unser Ding, lass uns gehen", irgendwie ließen sich die beiden nicht voneinander trennen, sie hatten sich offenbar noch nicht alles gesagt, was über die politische Einstellung junger Menschen gesagt werden sollte, S. und ich gingen raus, kamen dann später wieder, um nach Adam zu sehen, der sich in Luft aufgelöst hatte, nur noch die auf dem Sofa vergessene Cola-Dose (sic!!) zeugte von der politisch wertvollen Argumentation, deren Zeugin ich geworden war (Ich muss zugeben, neben dem Schreck war ich in erster Linie ziemlich begeistert davon, live bei einer Prügelei dabei gewesen zu sein. Ok, absurd war es auch ...). Der Sparringspartner von Adam entschuldigte sich bei S. auf Deutsch für das Gerangel und brachte mehr als einmal zum Ausdruck, wie peinlich ihm das Ganze war, und sogar eine seiner Begleiterinnen entschuldigte sich bei mir. Ich will hier definitiv keine politische Message hinterlassen. Weder über Adam noch seine Diskussionsteilnehmer / -kultur, noch über Kommunisten oder Faschisten oder gar ... Courage. ...

IX. Zum Schluss.

Nach knapp 3 Wochen, der mein letzter Beitrag jetzt her ist, gleicht dieser hier, wie gewöhnlich, einem Roman. Und dabei habe ich längst nicht über alles geschrieben (Wenn ich über Tschechien schreibe, wird bei mir eh der Ich-bin-absolut-verliebt (immer noch)-in-dieses-Land - Schalter umgelegt). Übernächste Woche verbringe ich einige Tage bei meinen Boys im Westen in Hessen. ... Der Blogeintrag wird dann also mindestens genauso lang, die Erlebnisse mindestens genauso ... absurd werden.

Klar ist aber eins: Ich habe nach den 4 Tagen Prag nicht das Gefühl, wesentlich ruhiger geworden zu sein, Prag war vom Workload her nicht sonderlich erholsam, aber ich konnte Abstand gewinnen zu den Dingen, die mich hier in L vor dem 6.4. nicht losgelassen hatten. Bier, Zigaretten und Tschechen machten es möglich, auf Probleme und Schwierigkeiten eine andere Perspektive einzunehmen und ziemlich deutlich zu verspüren, was ich brauche und was nicht, was mir wichtig ist, was nicht.
Um 2 Paar Ohrringe, einen Nasenhaarschneider und viele wunderbare Erinnerungen reicher kann ich ins neue Semester starten und danke insbesondere Dir, S., für die schönen Tage und dass Du das alles möglich gemacht hast.

Als Belohnung für die, die bis zum Schluss gelesen haben: Foddos.





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** Es wird ein Roman. Achtung. Die Warnung hätt ich wahrscheinlich an den Anfang setzen sollen.